Das Heilige als Beziehung
Von Dr. Markus Zink, Pfarrer für Kunst und Kirche im Zentrum Verkündigung der EKHN
Das Heilige ist unantastbar
Was heilig ist, löst gleichzeitig Furcht und Faszination aus. So hat der Religionswissenschaftler Rudolf Otto das Heilige definiert, als ein „fascinosum et tremendum“. Heiligen Dingen begegnen Menschen dementsprechend mit „Ehrfurcht“. Sie fühlen sich angezogen, empfinden aber auch eine gewisse Berührungsangst. In diesem Sinne ist vom Heiligen auch in der Bibel die Rede. Der heilige Ort, an dem Mose die Schuhe ausziehen soll, bevor er Gott begegnet (2 Mose 3,5). Die Bundeslade mit den Tafeln der Zehn Gebote: wer sie unberufen berührt, spielt mit seinem Leben (4 Mose 4,15 und 2 Samuel 6,1-11). Aber auch an Personen ist zu denken: Eine Frau mit chronischem Blutfluss berührt heimlich das Gewand Jesu. Ihn selbst hätte sie, die wegen ihrer Krankheit als unrein galt, nicht anzufassen gewagt. Beide spüren aber die heilende Kraft, die von ihm ausgeht (Markus 5,25-34). Solche Geschichten sagen etwas über das Faszinierende und Erschreckende des Heiligen und von seiner Macht. Sie erzählen von wundersamen Ausnahmeerfahrungen. Rudolf Otto spricht deshalb auch vom „Numinosen“ und meint die Erfahrung mit göttlichen Mächten und Ansprüchen. Etwas davon hat sich an zentraler Stelle sogar in unserem Grundgesetz niedergeschlagen. Da heißt es, dass die Würde des Menschen „unantastbar“ sei. In dieser Formulierung schwingt etwas von der religiösen Überzeugung mit, dass alles menschliche Leben „heilig“ ist. Niemand darf sich eines anderen Menschen bemächtigen. Gott selbst erhebt Anspruch auf uns. Das ist nicht veräußerbar, nicht verhandelbar und damit „unantastbar“. Am deutlichsten wird das im fünften Gebot: Du sollst nicht morden!
Damit kommen wir zum Kern des Begriffs. Heilig ist nach biblischer Überzeugung alles, was für Gott reserviert und auf Gott bezogen ist, von Gott angeordnet oder auserwählt wurde. Das Heilige ist unserer Verfügungsgewalt entzogen. Wir dürfen damit nicht nach Belieben umgehen, es gar ausnutzen oder verletzen. Darin unterscheidet sich das Heilige vom Profanen. Im Heiligen begegnet Gott auf indirekte Weise. Nicht zuletzt durch die Menschen, die an Gott glauben: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig!“ (3 Mose 19,2 und 1 Petrus 1,16)
Menschen sind gewissermaßen schon als Gott-ebenbildliche Geschöpfe „heilig“. Aber an dieser Stelle muss man auch klar differenzieren. Kein Mensch, kein menschliches Werk und generell nichts in dieser Welt soll in religiöser Verehrung angebetet werden. Dafür steht schon das erste Gebot. In diesem Sinne, wenn es um die Anbetung geht, können Menschen gar nicht heilig sein. Das gilt nur von Gott selbst.
Die Gemeinschaft der Heiligen und die Vergebung der Sünden
Dennoch ist in der Bibel des Öfteren davon die Rede, dass Menschen, das ganze Volk Israel (2 Mose 19,6 und 5 Mose 7,6) oder die Gläubigen „heilig“ seien (1 Petrus 2,9) oder ihre „Heiligung“ von Gott erbitten und selbst daran arbeiten können. Denn der Glaube heiligt durch die Wahrheit (Johannes 17,17). Wenn die Gläubigen als heiliges Volk gelten, sind sie dann besser als andere? Nein, aber sie dürfen wissen, dass Gott sie auserwählt hat. Nur bedeutet Erwählung im biblischen Verständnis gerade nicht, etwas Besseres zu sein. Erwählt zu sein, ist eine Gnade und eine Aufgabe.
Im Apostolischen Glaubensbekenntnis wird das deutlich, indem das Heilige und die Sünde in einem Satz aufeinander treffen: „Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden…“
Mit „Gemeinschaft der Heiligen“ sind keineswegs die verstorbenen Vorbilder des Glaubens gemeint, mit denen eine jenseitige Verbindung bestünde, sondern tatsächlich die Glaubensgemeinschaft von Christinnen und Christen, denen ich in einer Gemeinde begegnen kann. Was sie auszeichnet, ist nicht, dass sie besonders gut oder glaubensfest oder irgendetwas Besseres sein müssten als andere. Was sie auszeichnet, ist die Vergebung der Sünden!
Durch Jesus Christus zu glauben, dass mir die Sünden vergeben sind, mir Gottes Liebe gilt und diese Liebe alle anderen Menschen mit umfasst, das ist eine Gabe des Heiligen Geistes. Anders gesagt: damit nehme ich eine heilsame Beziehung auf, die Gott mir anbietet. Und diese Beziehung umfasst potenziell alle anderen Menschen. Die Kirche ist heilig, und einzelne Gläubige sind heilig, nicht aus sich heraus, sondern weil sie durch die Liebe Jesu mit Gott in Beziehung stehen. Das geht „nicht aus eigener Vernunft noch Kraft“, wie auch Luther im Kleinen Katechismus zu diesem Artikel des Glaubensbekenntnisses schreibt, sondern das ist eine Gabe, die ihre Kraft durch die Vergebung der Sünden jeden Tag neu erhält.
Christinnen und Christen sind also durchaus ein „heiliges Volk“ (vgl. 1 Korinther 1,2 und 1 Petrus 2,9), aber von Perfektionismus ist da nicht die Rede. Im Gegenteil! Und das ist etwas sehr Befreiendes. Doch das wird auch nicht spurlos an einem Menschen vorübergehen. Empfangene Liebe wird sich auswirken im Leben, in der Beziehung zu sich selbst und zu anderen. In diesem Sinne bedeutet „Heiligung“, bewusst mit Gott als Quelle der Liebe zu leben. Dabei sind und bleiben unsere Möglichkeiten begrenzt und gebrochen. Wir bleiben fehlbar, in biblischen Begriffen: Sünderinnen und Sünder, aber gleichzeitig dürfen wir wissen, dass Gott immer wieder eine Verbindung zu uns sucht. In dieser Glaubenserfahrung werden wir zu einer besonderen Gemeinschaft, der „Gemeinschaft der Heiligen“.
Der Apostel Paulus stellt sich das wie einen Körper vor. Jeder und jede einzelne gleicht einem Körperteil. Wir sind alle verschieden, gehören aber zusammen und brauchen einander. In diesem Sinne ist die Kirche der „Leib Christi“ (1 Korinther 12,12 ff.). Die Einzelnen haben an ihm Anteil. Auch in diesem Sinne sind sie heilig. Daher ist es auch berechtigt zu sagen, dass Menschen durch die Taufe „heilig“ werden (darauf spielt 1 Korinther 6,11 an). Denn mit der Taufe werden sie in den Leib Christi eingegliedert und erfahren den Zuspruch der Gnade, der ihnen nicht wieder genommen werden kann.
Heilige Orte und Zeiten
Vor diesen Hintergründen lohnt es sich, noch einmal über heilige Orte, Dinge und Zeiten aus biblischer Sicht nachzudenken. Heilige Orte, seien es nun der Berg mit dem brennenden Dornbusch (2 Mose 3) oder der Tempel, werden von Gott als Orte der Offenbarung und Gottesbegegnung frei gewählt. Gerade die Stelle 1 Könige 8,27-30, an der darum gebetet wird, dass Gottes Name und damit seine ganze Macht im Tempel einziehe, unterscheidet genau zwischen Gott im Himmel und seiner Gegenwart auf Erden. Gott lässt sich nicht dingfest oder ortsfest machen. Gott bleibt von allen irdischen Festlegungen frei. Dafür stehen das erste und das zweite Gebot. Aber in diese Freiheit bietet Gott geschützte Stätten der Begegnung an. In diesem Sinne sind sakrale Gebäude eine Erweiterung der Heiligen Orte aus der Bibel, aber keine Festlegung Gottes.
In Luthers Verständnis sind Orte und Zeiten niemals an sich heilig, sondern wir sollen sie für uns heiligen. Wir können sie nämlich für Gott reservieren und uns an diesen Orten und zu diesen Zeiten für Gottes Wort öffnen (vgl. Luthers Großen Katechismus zum Dritten Gebot „Du sollst den Feiertag heiligen“).
Kirchen sind im protestantischen Verständnis nicht in dem Sinne heilig, dass ihr Material oder der Platz, an dem sie stehen, von anderen Bauplätzen, Steinen, Holz und Metall grundsätzlich verschieden wären. Aber sie sind ja für den religiösen Zweck reserviert, also für Gott. In der Regel drückt sich das in der Architektur, in Symbolen und in künstlerischer Gestaltung aus. Kirchengebäude inszenieren oft eine besondere Raumerfahrung, die stärker berührt als Alltagsräume. Durch die Erfahrung mit religiösen Feiern und durch die ästhetische Ausdruckskraft solcher Räume kann in Menschen eine Art Resonanz erzeugt werden. So treten für sie die Gebäude und die Gottesbeziehung in Verbindung miteinander. Das macht sakrale Gebäude zu besonderen Räumen für die Gottesbegegnung, in Gemeinschaft oder auch allein. Mit einer gewissen Sensibilität für Räume spüren Menschen, dass ein Ort oder ein Gebäude auf Glaubenserfahrungen angelegt wurde und sie widerspiegelt. So entsteht auch ein Gefühl für die Heiligkeit eines Gebäudes. Es ist aber im Grunde die Heiligkeit des Menschen, also seine Beziehung zu Gott, die dabei resonanzhaft erspürt wird. Zugespitzt könnte man sagen: Sobald der oder die letzte Gläubige den Raum verlassen hat, ist das Gebäude auch nicht mehr heilig, sondern einfach nur ein Bauwerk unter anderen. Allerdings sieht man ihm oft auch von außen an, dass es sich um ein besonderes Gebäude handelt. Dann lässt die Raumwirkung in das Umfeld hinein ebenfalls ein entsprechendes Resonanzgefühl für das Heilige entstehen.
Im evangelischen Verständnis des Heiligen ist wichtig, dass es immer um die Beziehung zwischen Mensch und Gott geht. Dabei spielt die Botschaft von Jesus Christus eine entscheidende Rolle. Und in diesem Sinne sind Zeiten, Orte und Dinge immer nur im Vollzug und in Verbindung mit der Verkündigung – dem „Wort“ – etwas Heiliges. So müssen zum Beispiel die Reste des Abendmahls außerhalb der Liturgie nicht anders behandelt werden als sonstige Speisereste. Da Menschen aber normalerweise im Umgang mit einem Gegenstand die Erfahrung mitdenken, die sie gerade damit gemacht haben, empfiehlt es sich, respektvoll mit solchen Resten umzugehen. Nicht wegen der Dinge an sich, sondern aus Respekt vor der Beziehung der Menschen zu Gott durch diese Dinge. Vergleichbar ist das mit Andenken an Familienangehörige. Sie haben eventuell keinen materiellen Wert, aber als Erinnerungsstücke bergen sie doch noch etwas von der Beziehung. Wenn sie entsorgt werden müssen, wird das in vielen Fällen mit einem anderen Bewusstsein und anderer Behutsamkeit passieren, als wäre es ein beliebiger Gegenstand, den man wegwirft.
Das Heilige ist faszinierend und respekteinflößend. Es ist gut, wenn wir unseren Sinn dafür bewahren. Denn im Respekt vor den Dingen, die Menschen wichtig sind, um ihren Glauben auszudrücken, spiegelt sich eben auch der Respekt vor den Menschen und ihrer Gottesbeziehung.
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